Als wir die anderen erreichten, standen ein kleiner Lieferwagen und ein dunkler BMW an der verabredeten Stelle. Alex stieg aus dem BMW, und sein Anblick jagte mir einen Schauer über den Rücken. Eine hastig genähte Platzwunde klaffte auf seiner Stirn, doch es war sein Blick, der mich am meisten beunruhigte – ein Blick, der vor unterdrückter Wut glühte.
Boris stellte uns seinen Mitarbeiter vor: Dieter. Er war eine skurrile Erscheinung. Abgewetzte Camouflage-Klamotten, eine Baseball-Cap unter der wilde, ungepflegte Haare hervorquollen, und ein verschwitztes T-Shirt, von dem ein ranziger Geruch ausging, der sich mit einer deutlichen Cannabis-Wolke vermischte. Seine dicken Brillengläser vergrößerten seine Augen, die dadurch noch irrer wirkten.
Nachdem Boris mir mit einem knappen Nicken signalisiert hatte, dass Dieter „okay“ sei, brachte ich alle auf den neuesten Stand. Ungläubiges Kopfschütteln, Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit. Jeder verarbeitete die schockierende Nachricht auf seine eigene Weise.
Plötzlich brach Dieter in ein schrilles Lachen aus. „Was ’ne Scheiße!“, prustete er. „Ich glaube, ich habe da ein paar Sachen, die euch helfen könnten.“ Er wurde ernst. „Ich hab den Bunker schon ausgekundschaftet. Mit meiner Drohne und dem LiDAR-Scanner. Und ein paar Freunde und ich haben uns in die Bunker-Datenbank gehackt. Kommt mit!“
Er schlurfte zu seinem Lieferwagen. Ich warf Boris einen fragenden Blick zu. „Dieter ist cool“, sagte Boris nur. „Ein bisschen verrückt, aber cool. Seine Jungs haben es drauf.“
Dieter riss die Schiebetür des Wagens auf und gemeinsam mit Fox und Alex wuchtete er ein paar Kisten heraus. Das Innere des Wagens war ein komplettes Chaos: Werkbank, Schreibtisch, Schlaf- und Wohnraum in einem. Überall lagen Computerteile, Waffenteile, Werkzeug, ein Schlafsack, alte Pizzakartons und leere Wodkaflaschen.
Dieter wühlte in einer Kiste, öffnete sie und zog einen Bogen hervor. „Hey, Geronimo. Ich hab da einen Bogen für dich.“
„Ich bin Fox. Und der Bogen ist für Mike!“ erwiderte Fox genervt.
„Echt jetzt? Das Weißbrot?“ Dieter zuckte die Schultern. „Na gut. Dann hab ich Feuerwasser für dich, Winnetou!“ Lachend hielt er ihm eine volle Wodkaflasche entgegen. Fox verdrehte nur die Augen.
„Willst nicht? Mehr für mich!“, brummte Dieter, drehte den Deckel auf, nahm einen tiefen Schluck, schüttelte sich und winkte mich heran.
Der Bogen in der Kiste war kein gewöhnlicher. Es war ein Oneida Phoenix. Er sah aus wie ein Recurve-Bogen, war aber tatsächlich ein Compound-Bogen mit einem komplexen Flaschenzug-System. Der große Vorteil war die Reduzierung des Zuggewichts im Auszug. Das erlaubte es, den Pfeil länger im Auszug zu halten, was besonders für ungeübte Schützen ideal war. Normalerweise würde man so einen Bogen mit Visier und Release schießen, aber ich war es gewohnt, mit den Fingern zu schießen. Ich sah Dieter fragend an.
„Was glotzt du so? Green Arrow hat den im Fernsehen geschossen. Genau genommen ein Vorgängermodell.“
„Ich schieße eigentlich Reiterbogen“, sagte ich.
„Ja, genau. Geht auch damit. Gewöhn dich einfach an die Zuggewichtsreduzierung, den Centershot und die Wand am Ende des Auszugs. Probier’s aus!“
Er reichte mir den Bogen und ein paar Pfeile und warf einen Plastikwürfel als Ziel ein paar Meter weit weg. Der Bogen lag überraschend schwer in meiner Hand. Mein Reiterbogen wog nur ein paar hundert Gramm, aber dieses Hightech-Monster aus Aluminium und Fiberglas wog über zwei Kilo. Doch ich probierte meinen Schießstil aus, und nach ein paar Schüssen hatte ich den Dreh raus. Ich hämmerte einen Pfeil nach dem anderen ins Ziel. Ja, er war schwer, das Einlegen der Pfeile war nicht so flüssig, und die reduzierte Zugkraft war ungewohnt, aber die Pfeile flogen immer wieder sauber ins Ziel. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich wieder in eine Waffe verliebt.
Es gab nur ein Problem: Wie sollte ich dieses schwere Teil im Kampf transportieren, wenn ich es nicht brauchte? Das Gewicht war enorm. Dieter hatte keine perfekte Lösung, gab mir aber eine Waffentasche in Coyote, die den Bogen und die Pfeile aufnehmen konnte. Man konnte sie als Umhängetasche oder mit Rucksackriemen tragen. Nicht optimal, aber das Beste, was wir hatten.
Dann warf er mir ein Tomahawk zu. Ein CRKT Rune, komplett aus Stahl mit Kunststoff-Griffschalen. Es hatte keinen Hammerkopf wie mein Chogan Hammer, dafür aber einen rasiermesserscharfen Haken. Auch dieses Tomahawk war deutlich schwerer als meins.
„Das ist ein taktisches Tomahawk. Fast unzerstörbar.“
Fox mischte sich ein: „Nimm es, das ist gut. Es gibt auch noch ein kleineres, das Jenny Wren. Auch nicht zu verachten im Nahkampf. Als Alternative zum Messer. Und ich kenne keinen Zauber, den ein Tomahawk im Schädel nicht beenden kann.“
Dieter lachte, kramte in seinem Wagen und warf mir ein Jenny Wren zu. Fox hatte recht. Es war handbeilgroß und auf allen drei Seiten geschliffen. Ich nahm beide.
Er hatte auch Einsatzkleidung für uns. Alles in Grau.
„Wieso grau?“, fragte ich.
„Grau ist nachts besser als schwarz“, erklärte Fox. „Richtiges Schwarz gibt es im Wald nicht. Und wir sind in einem Bunker. Da fällt man mit dieser Farbe weniger auf, als wenn man als schwarzer Fleck irgendwo rumhockt.“
Als Dieter Fox die Ausrüstung reichen wollte, lehnte er ab und deutete auf seine Colts und das Bowie. Die graue Einsatzkleidung nahm er jedoch an.
Kurze Zeit später waren wir umgezogen und einsatzbereit. Dennoch hatten wir keinen wirklichen Plan. Es war bereits Nachmittag. Die Walpurgisnacht stand in den Startlöchern, und der Weg in den Bunker war versperrt.
Unsere kleine Gruppe war ziemlich ratlos. Boris, Alex und Gabriel waren mit ihren Jagdgewehren ausgerüstet, Alex hatte auch seine Dienstpistole dabei. Sie hatten Jägerkleidung angezogen, weil sie sich dem Gelände vom Wald aus nähern würden. Fox und ich würden versuchen, uns von den Klippen aus einen Überblick zu verschaffen. Dieter gab uns kleine Handfunkgeräte. Er würde in seinem Lieferwagen warten und versuchen, uns von dort zu unterstützen. Das war alles. Kein Plan, kein Schnickschnack. Wir mussten improvisieren.
Wir reichten uns die Hände, wünschten uns Glück und machten uns auf in den Wald. Ob wir es schaffen würden? Keine Ahnung.
Fox und ich erreichten die Spitze der Klippe ohne Schwierigkeiten. Ich legte meine Waffentasche ab, und wir blickten in die Tiefe. Die Kapelle lag verlassen da, in ihrem Inneren brannte Licht. Ich schaltete in meine Geistersicht und sah sie im Zentrum einer schwarz-rot pulsierenden Kugel, deren Intensität zunahm, je länger ich hinsah. Fox nickte. Er hatte es auch gesehen. Der Bereich zwischen Kapelle und Bunker war leer. Etwa fünfzig Meter maß der Halbkreis um die Klippen und die Innenwand des Bunkers. Diesen Bereich mussten wir vom Bunker aus überqueren. Die Alternative wäre Abseilen, aber das wären sicher achtzig Meter. Fox deutete auf ein schwarzes Loch in der Bunkerwand. Ich konzentrierte mich, wechselte wieder in die Geistersicht und sah die Lebensfäden einer Person, die dort lauerte. Ein Scharfschütze, der den Bereich zwischen Bunker, Kapelle und Klippen sicherte. Verdammt, der Weg über die Klippen fiel flach.
Das Funkgerät knackte leise. „Wir sind in Position“, meldete sich Alex. „Haben uns etwas aufgeteilt. Ich liege am Eingang, Gabriel und Boris sind im Wald rechts und links. Das gepanzerte Fahrzeug steht vor dem Bunkereingang, zwei Wachen davor. Ende.“
„Stimmt“, bestätigte Gabriel.
Dann Boris: „Wenn du fertig bist, sag Ende. Ich sehe die beiden auch. Sie haben sich eingegraben, da kommen wir nicht so einfach vorbei. Nur mit einem Feuergefecht, bei dem wir bluten werden. Ende.“
Dieter meldete sich: „Ich hab da eine Idee. Muss mit einem Kumpel telefonieren. Boris, kannst du zu mir kommen und mir den Posten beschreiben? Ende.“
„Roger, Ende.“
Fox bedeutete mir, dass er hierbleiben würde. Ich solle zu Dieter zurückkehren.
Zwanzig Minuten später war ich wieder am Wagen. Ein weiterer Kleinbus stand dort. Boris war bereits da und sprach mit Dieter und einer Frau. Sie sah ziemlich heruntergekommen aus. Zerrissene Jeans, kurzes, wildes, dunkles Haar, ein Schlabberpulli, Brille. Eher klein und leicht pummelig.
„Das ist meine Freundin Soph“, stellte Dieter sie vor.
Sie mied meinen Blick. Ich sah sie mir genauer an. Ich kannte sie. Woher? Es brauchte eine Minute, dann fiel der Groschen. Ich sah sie ordentlich gekämmt und im Hosenanzug am Schreibtisch in Gabriels Vorzimmer.
„Sophia“, entfuhr es mir.
Röte schoss ihr ins Gesicht. „Hi, Mike“, murmelte sie kleinlaut.
„Was ist los?“, fragte Boris.
„Das ist Sophia. Die Anwaltsgehilfin meines Bruders.“
Boris sah sie nun auch genauer an. Ihr Kopf nahm eine weitere Schattierung Rot an, und man merkte ihr an, dass sie am liebsten im Erdboden versunken wäre.
Dieter sprang ihr zur Seite. „Soph ist unser Tech-Genie. Alles, was mit Rechnern, Tablets, Internet, Überwachung und Drohnen zu tun hat, ist ihr Ding. Sie ist eine verdammt gute Hackerin. Boris hat mir den Wachposten beschrieben und wir haben eine Idee, wie wir die ausschalten.“
Sophia übernahm. „Ich habe ein paar Kontakte in der Ukraine, die gerade gegen Putin kämpfen. Einige Drohnen-Zauberer haben etwas gebaut, das sie Fanta-Bomb nennen. Man füllt eine kleine PET-Flasche mit Sprengstoff und Metallteilen und wirft sie mit einer Drohne über eine feindliche Stellung ab.“
„Ein IED aus der Luft“, meinte Boris.
„Ziemlich übel, wenn die hochgeht“, pflichtete ich bei. „Gut, wenn wir sowas hätten. Wir sind ohnehin in der Feuerkraft unterlegen. Und dann sind wir immer noch nicht durch das Tor. Ich habe zwar im oberen Stockwerk einiges zerstört, aber die könnten uns beim Vorrücken mit Sperrfeuer empfangen. Bis wir das Tor mit einem Sprengsatz öffnen, sind mindestens fünfundsiebzig Prozent von uns tot oder verwundet.“
„Auch dafür hätte ich was“, erwiderte Soph. „Eine Kamikaze-Drohne mit einem Sprengsatz, der wie ein Torpedo funktioniert. Sobald der Druckschalter das Tor berührt, sprengt er ein Loch hinein.“
Ich sah Sophia überrascht an. „Das ist… Abgründiges Zeug. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Habt ihr sowas hier?“
Man sah Sophia an, dass sie voll in ihrem Element war. „Wir haben alles, um beides zu improvisieren. Nur keinen Fernauslöser für die Fantabomb. Da muss ich mir noch was einfallen lassen.“
„Kann deine Drohne den Sprengsatz fallen lassen?“, mischte sich Boris ein.
„Ja, so ist das gedacht. Ich könnte auch hier einen Druckschalter bauen, aber da könnte ein Großteil der Ladung in Bodennähe explodieren. So könnte eine der zwei Wachen vielleicht überleben.“
„Alex hat ’ne Blendgranate im Auto“, sagte ich. „Würde die Flasche genug Gewicht haben, um beim Fall den Ring des Zeitzünders abzuziehen?“
Sophia nickte. Sie drehte sich zu ihrem Bus, holte ein Tablet heraus und tippte wild darauf herum. „Das könnte klappen. Wenn ich in der richtigen Höhe fliege und die Flasche fallen lasse, explodiert sie auf Brusthöhe. Das müsste die beiden Wachen ausschalten.“
Dieter und Sophia machten sich ans Werk. Ich funkte die Lage durch. Am Bunker war alles ruhig. Ich setzte mich in der Wartezeit an den Waldrand und entspannte mich.
Ich war schnell auf der anderen Seite und Moon begrüßte mich. Sie spürte meine Angst und die Erregung vor dem Gefecht. Keiner von uns wusste, wie es ausgehen würde. Moon erzählte mir von dem Wald, in dem der Bunker lag. Sie hatte mit den Tieren und den Pflanzen Kontakt aufgenommen. Es gab ein paar alte Bäume, die noch die Hexe aus dem Mittelalter erlebt hatten. Sie erzählten von dem Bösen, das dort lauerte. Es hatte lange geschlummert, war jetzt aber fast so stark wie damals. Die Tiere waren aus dem Wald geflohen, aber nur so weit, dass ich sie nicht mit meiner Gabe nutzen konnte. Das würde ein Problem werden. Aber Moon versicherte mir, dass sie zurückkehren würden, sobald die böse Macht nicht mehr so stark war. Ein Hoffnungsschimmer? Vielleicht.
Ich konzentrierte mich auf meine Pfeilspitzen, die ich von den Schäften geschraubt und mitgebracht hatte. Ihnen fehlte die richtige Macht – eine weiße, klare und gute Kraft, die ein Gegengewicht zu der schwarz-rot wabernden Finsternis bilden musste. Auch beide Tomahawks, die ich an meinem Einsatzgürtel befestigt hatte, bekamen sehr viel Kraft ab. Danach fühlte ich mich ausgelaugt. Dieter drückte mir ein paar Tüten Beef Jerky in die Hand. Ich verschlang das trockene Rindfleisch und fühlte mich schnell besser.
Unser kleines Tech-Team hatte schnell alles zusammengebaut. Ich kam gerade dazu, als sie über das Vorgehen sprachen. Es gab zwei Probleme: Wir brauchten zwei Drohnenpiloten, da beide Drohnen kurz hintereinander ihren Job verrichten sollten, um dem Gegner keine Atempause zu geben. Sophia würde die Drohne für die Wachen fliegen und Dieter die für das Tor. Dieter war jedoch nicht so geübt, und das Team hatte Bedenken, dass er es vielleicht nicht hinbekam. Wir hatten keine Alternative. Niemand aus dem restlichen Team wäre versiert genug, aus dem Stegreif eine Drohne zu fliegen. Die wichtigste Drohne war die, die die Wachen ausschalten würde. Wenn das geschafft war, könnte Sophia notfalls die zweite Drohne übernehmen.
Ich nahm Boris zur Seite. „Meinst du, die schaffen das?“, fragte ich. „Mit ’ner Drohne rumfliegen ist eine Sache. Aber damit Menschen in die Luft jagen, ist was ganz anderes.“
„Ich bin mir da nicht sicher“, erwiderte Boris. „Außerdem sollte wenigstens einer mit ’ner Waffe hierbleiben, um sie zu beschützen. Wir wissen nicht, ob die noch ein zweites Team haben. Die beiden hier ungeschützt zu lassen, wäre fatal.“
„Du hast recht. Würdest du das übernehmen?“
„Klar“, sagte er. „Dieter ist es gewohnt, dass ich ihm auf die Finger schaue und ihm sage, was er tun soll.“
„Gut. Sieh zu, dass die beiden verschwinden, sobald die Drohnen ihren Job gemacht haben. Danach kannst du dich uns ja wieder anschließen.“
Er nickte. Ich sah zum Himmel. Die Sonne würde in einer Stunde untergehen. Sophia meinte, direkt nach Sonnenuntergang, wenn es noch nicht ganz dunkel war, wäre ein guter Zeitpunkt für den Drohnenangriff. Ich nickte und machte mich auf den Weg zurück zu Fox. Im Wald besuchte ich vorher noch Alex und Gabriel und informierte sie.
Als die Sonne ihre letzten Strahlen über den Wald schickte, erreichte ich Fox auf dem Felsen.
Die Kapitel der Moon-Chroniken sind vergänglich – nach 4 Wochen verschwinden sie wieder im Schatten.
Die vollständige Geschichte bleibt jedoch jederzeit lebendig.
Die Spannung steigt!
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Was davor geschah:
Die Moon-Chroniken
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