Fox und ich waren gerade erst zur Burg zurückgekehrt, da lag es schon vor meiner Tür: ein Paket von Amazon. Ungeduldig riss ich die Verpackung auf und zog ein dickes Buch heraus. Darin, so wusste ich, sollten Briefe junger Wehrmachtssoldaten an ihre Familien gesammelt sein, die von ihren Erlebnissen an der Front berichteten. Das Buch war ein echter Wälzer. Mit einer Tasse Kaffee zog ich mich in mein Zimmer zurück, um zu lesen – doch „lesen“ ist nicht das richtige Wort.
Schon vor dem Abitur hatte ich mir eine Speedreading-Technik antrainiert. Mein Blick glitt dabei, geführt von der Spitze eines Bleistifts, schnell über die Zeilen. Mein Kopf war auf nur zwei Worte programmiert: „Kapelle“ und „Bunker“.
Ich blätterte rasch durch die Seiten. Etwa in der Mitte wurde ich fündig. Der junge Gefreite Stefan Köhler berichtete von einem unheimlichen Bunker, in dem er stationiert war. Eine alte Kapelle war darin eingeschlossen, und er schob dort Wache. „Viele Wissenschaftler waren dort“, schrieb er. Mehr gab der Brief nicht her.
Die Herausgeber des Buches hatten jedem Brief eine Erläuterung beigefügt. So erfuhr ich, dass der Bunker nicht an der Front, sondern im damaligen Deutschen Reich lag. Der Gefreite lebte in der Nähe. Er war inzwischen verstorben, aber der Brief stammte aus seinem Nachlass. Als Rechteinhaber war ein gewisser Klaus Köhler genannt.
Ich schnappte mir mein iPad und suchte nach Klaus Köhler. Die Suche führte mich sofort zu einer Firmenwebsite, auf der er als Prokurist aufgeführt war – inklusive Telefonnummer. Ich zögerte keine Sekunde und rief an.
„Köhler“, meldete er sich nach dem zweiten Klingeln.
„Hallo, Herr Köhler. Mein Name ist Michael Wegner. Ich habe den Brief von Stefan Köhler gelesen und bin sehr an dem Bunker interessiert, in dem er stationiert war.“
„Wieso interessiert Sie das?“, fragte er misstrauisch.
„Ich bin Fotograf und spezialisiert auf sogenannte Lost Places“, log ich. „Gerade arbeite ich an einer Ausstellung über alte Weltkriegsbunker.“
„Oh, interessant. Aber da wird leider nichts draus“, erwiderte er.
„Warum nicht?“
„Das Gelände liegt zwar in der Nähe, aber es war schon früher schwer zugänglich. Inzwischen gehört es einer Firma, die das gesamte Gebiet hermetisch abgeriegelt hat. Ein Sicherheitsdienst patrouilliert dort. Mit denen ist nicht zu spaßen. Ein paar Jugendliche haben schon versucht, einzusteigen, und wurden bei der Polizei angezeigt.“
„Können Sie mir trotzdem verraten, wo sich der Bunker befindet?“
„Ich habe die Koordinaten. Aber auf Google Maps werden Sie die nicht finden. Ich vermute, der jetzige Eigentümer hat sie löschen lassen. Wenn ich meinen Großvater richtig verstanden habe, war das schon im Zweiten Weltkrieg ein streng geheimer Ort.“
„Haben Sie noch mehr Informationen über den Bunker?“
„Ja. Mein Großvater war auch nach dem Krieg regelrecht besessen von diesem Ort. Als der Verlag uns wegen der Briefe kontaktierte, habe ich denen ein PDF geschickt, das mein Großvater mit all seinen gesammelten Infos, weiteren Briefen und Tagebucheinträgen zusammengestellt hatte. Wenn Sie mir Ihre E-Mail-Adresse geben, schicke ich Ihnen die Datei zu.“
Ich nannte ihm meine E-Mail-Adresse und bedankte mich. Kaum hatte ich aufgelegt, signalisierte mein Handy den Eingang einer neuen Mail. Ich wollte sie gerade öffnen, als es leise an meiner Tür klopfte. Britta stand draußen. Sie trug jetzt Jeans, T-Shirt und Sneakers – alles ziemlich eng, was ihre durchtrainierte Figur zur Geltung brachte. Mir stockte kurz der Atem.
„Du hast dich heute sehr rar gemacht“, sagte sie mit einem spöttischen Lächeln, als sie hereinkam. „Wolltest du mir aus dem Weg gehen?“
„Nein“, erklärte ich. „Wir sind einer Spur nachgegangen, die sich aber als Sackgasse erwies. Dafür habe ich etwas Neues entdeckt, und bei mir passiert gerade so viel. Und dann bist da noch du und unsere gemeinsame Nacht. Ich weiß nicht, wo das hinführen soll.“
„Pscht, nichts überstürzen, Romeo“, sagte sie sanft. „Ich mag dich. Die Nacht war toll, und ich würde gerne eine weitere mit dir verbringen. Aber ob wir zusammenpassen, steht noch in den Sternen. Ich suche gerade keine feste Bindung.“
„Lass uns dieses Abenteuer hier erst mal überleben“, schlug ich vor. „Dann können wir ja sehen, wie es wird. Übrigens, deine Schwester weiß es.“
„Hast du etwa mit mir als Trophäe angegeben?“, fragte sie laut.
„Nein“, verteidigte ich mich. „Alex und Fox kennen mich lange. Sie haben es gemerkt und mich in Anwesenheit von Brigitte aufgezogen. Da ist sie ziemlich ausgerastet.“
„Verdammt“, fluchte sie. „Das macht meine Beziehung zu ihr noch schwieriger.“
„Sie hat was mit Alex“, warf ich ein. „Vielleicht hilft das ja.“
Sie verdrehte die Augen. „Bei all unseren Unterschieden sind wir uns doch sehr ähnlich. Und Alex ist auch echt schnuckelig.“ Sie lachte und ging.
Nachdem Britta gegangen war, öffnete ich die Datei auf meinem iPad. Das Dokument enthielt mehrere eng beschriebene Seiten, dazu Karten der Umgebung in verschiedenen Maßstäben und einen schematischen Grundriss des Bunkers. Den sah ich mir lange an. Das war eine Festung, die nicht einfach zu knacken sein würde. Herr Köhler hatte mir in seiner E-Mail auch den Namen der Firma genannt, der das Grundstück jetzt gehörte. Ich schlug den Namen im Internet nach – und war nicht überrascht, dort den Namen meines Vaters zu finden.
Ich rief Gabriel an und er war dankbar für die Information. Kurze Zeit später rief er mich zurück, er hatte einen ganzen Haufen Papiere zur Firma gefunden. Er versprach, noch am Abend alles vorbeizubringen.
Ich entspannte mich und konzentrierte mich auf meinen Atem. Ziemlich schnell verließ ich diese Welt und tauchte in eine andere ein. Moon erwartete mich. Sie sah zufrieden aus.
„Ich mag sie“, sagte sie.
„Puh. Das ist doch mal was. Ich dachte schon, du hasst sie.“
„Nein. Sie füllt etwas in dir aus, das bisher leer war. Das ist gut!“
„Trotzdem bin ich mir nicht sicher.“
„Selbstzweifel hat jeder“, erwiderte sie. „Ob es ewig hält, kann ich dir auch nicht sagen. Aber sie tut dir bei all den Konflikten gerade gut. Und ich glaube, sie kann dir mit ihrem Wissen behilflich sein. Du stehst erst am Anfang deiner spirituellen Reise. Sie ist da schon ein paar Schritte weiter. Auch Fox ist weiter. Nutze das. Lerne!“
Ich blieb noch ein paar Minuten in dieser anderen Welt, um meine Gedanken zu sortieren und mit meinen Gefühlen ins Reine zu kommen, dann kehrte ich zurück und ging zu Fox.
Wir sahen uns gemeinsam die Karten an. Der Fundort von Max‘ erstem Auto lag ganz woanders, er diente offensichtlich nur dazu, etwaige Verfolger zu verwirren. Der Bunker war gar nicht so weit entfernt. Nach dem Krieg war das Gelände von der britischen Armee genutzt worden. Erst vor ein paar Jahren hatten sie sich zurückgezogen. Aus diesem Grund hatten wir als Kinder dort nie spielen können und kannten uns dort nicht wirklich aus.
Jetzt wurde uns auch klar, wie die Angriffe gegen uns so schnell organisiert werden konnten. Das ging nur, wenn derjenige ganz in der Nähe war. Es wurde langsam Zeit, dass unsere Jäger selbst zu Gejagten wurden. Wir sahen uns auch die restlichen Unterlagen an und trauten unseren Augen kaum. Es waren Informationen, die wir nicht erwartet hatten. Das mussten die anderen erfahren.
Fortsetzung folgt
Die Moon-Chroniken
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