Wir hatten verloren. Nicht nur eine Schlacht, sondern auch einen Kameraden. Verletzt und blutend standen wir auf den Trümmern unserer Niederlage. Der Feind war uns bereits einige Schritte voraus und wenn es so weiterging, würde er den Krieg gewinnen.
Mein Leben war ein einziges Durcheinander. War das wirklich Kathrin gewesen oder nur eine Kreatur, die sie beherrschte? Eigentlich war es egal, denn für sie gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihren eigenen Vater getötet – eine unverzeihliche Tat. Wie hatte sie so weit abdriften können?
Diese Nacht hatte uns gezeigt, wie mächtig unser Gegner war. Nun, da er das Herz der Hexe besaß, konnte er es für alles Mögliche einsetzen. Und wir hatten noch immer keine Ahnung, was er wirklich vorhatte.
Noch am selben Tag setzten wir uns zusammen und trugen alle Informationen zusammen, die wir hatten. Es war eine enttäuschende Bilanz: nur lose Enden, die uns nicht weiterbrachten. Wir vertagten das Treffen, und jeder versuchte, auf eigene Faust Ruhe zu finden.
Marlies hatte der Verlust ihres Mannes besonders hart getroffen. Zuerst dachte ich, sie wäre in einem Krankenhaus besser aufgehoben, aber das lehnte sie ab. Sie blieb in ihrem Zimmer. Nur Johann schaute regelmäßig nach ihr.
Am nächsten Tag traf ich mich mit Fox. Uns war klar, dass die Hexen – was auch immer sie planten – auf die Walpurgisnacht warten würden, um die Wirkung ihres Zaubers zu verstärken. Das gab uns noch gut drei Wochen. Drei Wochen, um herauszufinden, was sie vorhatten und wo sie es ausführen würden. Die Aussichten waren düster, denn uns fehlte jeglicher Ansatz.
Die Kapelle, die an dem Ort stand, wo die erste Hexe starb, ging mir nicht aus dem Kopf. Fox nickte zustimmend. „Es sieht ganz so aus, als wollte Madame Claire diese Hexe wiedererwecken.“ Aber er gab auch zu bedenken, dass wir keine Ahnung von dem Ort hatten. „Lass uns erst mal Kraft sammeln“, schlug er vor. Doch die Niederlage wog schwer und so richtig motiviert waren wir beide nicht.
Ich ging hinaus in den Wald. Moon trottete neben mir. „Geh die letzten Tage noch mal durch“, sagte sie zu mir.
„Was meinst du?“
„Es gab so viele neue Informationen und Personen. Wir haben die meisten davon noch gar nicht richtig überprüft. Es ging alles so schnell!“
„Meinst du die zwei Tussis aus Wuppertal? Ich habe nur ihre Vornamen. Das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“
„Was ist mit den Neonazis? Die, über die Alphakevin gesprochen hat.“
„Verdammt, die hatte ich vergessen. Ich glaube, ihre Eltern wohnen noch hier. Das wird heikel. Der Alte ist ein richtiger Nazi.“
„Und was ist mit der Mutter?“
„Die war eigentlich immer ganz nett. Sie arbeitet als Bedienung in der Dorfkneipe.“
„Lass uns der mal auf den Zahn fühlen.“
Da ich Fox nicht finden konnte, machte ich mich allein auf den Weg zur Kneipe. Dank des Mittagstisches hatte sie bereits geöffnet. Frau Krause, die Wirtin, war da und begrüßte mich freundlich. Ich bestellte ein Schnitzel mit Pommes und ein Bier. Als sie mir das Bier brachte, fragte ich beiläufig, wie es ihren Söhnen ginge. Ich hätte schon lange nichts mehr von ihnen gehört.
Sie seufzte. „Ach, Michael. Du kennst sie doch. Nichts Gescheites jedenfalls.“
„Ja, das kann ich mir denken. Wir sind ja damals oft aneinandergeraten.“
„So kann man es auch nennen.“
„Ich hatte gehört, sie wollten zum Bund.“
„Das war nichts. Sie waren untauglich. Das hat sie ziemlich mitgenommen.“
„Und was machen sie jetzt?“
„Einfache Bewachungsaufgaben. In so einer Sicherheitsfirma.“
„Puh. Da verdient man aber nicht so viel.“
„Doch, eigentlich verdienen sie nicht schlecht. Es macht ihnen auch Spaß. Sie dürfen wohl Waffen tragen. Du kennst sie ja.“
„Echt? Bewachen sie Atommüll?“
„Nein. Irgendwas mit Militäranlagen. Sie reden immer mal wieder von einem dunklen Bunker.“
„Bunker? Von der Bundeswehr?“
„Ich glaube nicht. Irgendwas Altes. Weltkrieg, glaube ich.“
„Erster oder Zweiter?“
„Keine Ahnung. Du, dein Essen ist fertig und es kommen noch mehr Gäste. Ich muss los. War nett mit dir zu plaudern.“
Sie ging und brachte mir mein Schnitzel. Ich verschlang es mit großem Heißhunger. Die letzten Tage hatten mich völlig ausgelaugt. Als ich die Kneipe verließ, rief ich Alex an. Er hatte die Kennzeichen der beiden SUVs überprüft, aber sie waren über eine Briefkastenfirma angemeldet. Ich erzählte ihm, was ich von Frau Krause erfahren hatte. Nachdem er mir versprochen hatte, der Sache nachzugehen, legte er auf.
Da ich sowieso im Ort war, schaute ich bei Boris vorbei. Sein Waffengeschäft war geöffnet, und ein Angestellter empfing mich. Da Boris gerade nicht da war, ließ ich mir ein paar Messer zeigen. Dabei stieß ich auf eine Klingenform, von der mir Fox oft erzählt hatte, als wir in Amerika waren: die Tracker Knives von Tom Brown Jr. Sie waren groß, schwer und boten eine Mischung aus Messer und Axt. Die größeren Modelle waren wuchtig, und ihre Kydexscheiden mussten horizontal am Gürtel getragen werden – Scout Carry.
Boris stieß dazu und meinte, die Solinger Firma Böker hätte eine Neuauflage von Messermacher David Wenger herausgebracht. Er hatte alle Modelle da und zeigte sie mir. Das mittlere Modell sprach mich besonders an. Es war zwar etwas länger als waffenrechtlich erlaubt, bot aber eine gute Balance und die zwei Schliffe auf der Klinge machten es vielseitig, sowohl im Wald als auch im Kampf. Die schwarz beschichtete Klinge verhinderte Reflexionen und der Stahl war draußen gut brauchbar. Preislich war es zudem deutlich günstiger als die Modelle der amerikanischen Firma Tops Knives. Ich kaufte es.
„Ich brauche auch noch ein Tomahawk“, sagte ich. „Mein Cold Steel Trail Hawk ist kaputt.“
„Schau dir mal den CRKT Chogan Hammer an. Der ist qualitativ deutlich besser als das Trail Hawk. Er hat auch eine Hammerfläche und das Blatt ist massiver und größer. Damit kannst du ordentlich austeilen!“
Ich wog das schwerere Tomahawk mit seinem Holzstiel in der Hand. Ja. Das hatte was. Ich nahm es auch, und die Rechnung lief aufs Konto des Grafen.
Danach kaufte ich noch einige Carbonschäfte, Jagdspitzen und weiteres Pfeilzubehör für mein Bogensetup. Boris versuchte noch, mich zu einer handlichen Pistolenarmbrust zu überreden, aber das war mir zu viel. Ich verabschiedete mich von ihm. Gerade als ich durch die Tür gehen wollte, fiel mir etwas ein.
„Ach, Boris. Die Waffen, mit denen uns die vier Arschlöcher gestern angegriffen haben, waren alles alte Wehrmachtsschießeisen.“
„Ja, stimmt. Hab ich gesehen. MP40 und P38, oder?“
„Yep.“
„Schade, dass ihr die der Polizei übergeben musstet. Die hätten bei Sammlern ein ansehnliches Sümmchen eingebracht.“
„Genau. Mein Vater hatte uns auch mit einer MP40 und einer P08 beschossen. Er hatte sie schon ein paar Jahre. Als er sie damals kaufte, schenkte er meinem Bruder eine alte Bergmann und mir eine Mauser C96. Ich frage mich, wo er die her hatte.“
„Du meinst, er hätte sie vielleicht bei uns gekauft?“
„Genau. Ist sicherlich 15 Jahre her.“
„Dann noch bei meinem alten Herrn. Da gab es noch nichts Digitales. Steuerlich müssen wir die Belege nur zehn Jahre aufbewahren. Ich glaube nicht, dass wir noch welche haben. Aber ich frag mal meinen Vater. Der ist immer noch fit im Kopf. Und gerade altes Wehrmachtszeug. Daran erinnert er sich sicherlich.“
„Super. Wann kannst du ihn fragen?“
„Da das wichtig ist, werde ich mich direkt reinknien. Ich rufe dich an, wenn ich was erfahre.“
„Danke!“
Als ich aus dem Laden kam, rief ich kurz meinen Bruder an. Er sichtete gerade die Unterlagen unseres Vaters. Auf meine Frage, ob er Hilfe brauche, lud er mich in die Kanzlei ein. Nach einem kurzen Spaziergang öffnete ich die Tür.
Sophie Bischoff empfing mich und freute sich sichtlich, mich zu sehen. Sie machte mir einen starken Kaffee und drückte ihr Bedauern aus, dass mein Vater sich gegen seine Söhne gewandt hatte. Ich dankte ihr und betrat das Gemeinschaftsbüro. Am Schreibtisch meines Vaters saß Gabriel und ging dessen Geschäftspapiere durch.
„Ein Chaos. Das Ablagesystem unseres Vaters ist echt beschissen. Vieles hat er privat archiviert. Ich habe mich schon zu Hause totgesucht.“
„Gabriel, mach langsam. Hast du überhaupt geschlafen? Du siehst scheiße aus!“
„Nein. Hab kein Auge zugemacht. Er hat mich hinters Licht geführt und wollte mich sogar umbringen. Ich bin sowas von angefressen!“
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Wusstest du, dass er sogar eine eigene Firma hatte? Eine Sicherheitsfirma.“
„Was?“
„Ja, mit Sicherheitskräften und so. Hier sind sogar Arbeitsverträge. Und Erlaubnisscheine für Schusswaffen.“
„Zeig mal her!“
Ich rief Alex an, und wir glichen die Daten ab. Sie passten zu den SUVs. Die Namen der Arbeitsverträge stimmten mit den vier Toten in der Burg überein. Ein erster Erfolg. Aber das war es auch schon. Mehr gab es nicht. Arbeitsverträge der beiden Söhne von Frau Krause gab es nicht, und auch keine Hinweise auf das Objekt, das sie bewachten. Trotzdem war ich mir sicher, dass die beiden mit den Hexen und meinem Vater unter einer Decke steckten.
Ich sprach Gabriel auch auf die alten Waffen unseres Vaters an. Er erinnerte sich noch lebhaft an den Lauf der P08, in den er geblickt hatte.
„Mann, ich dachte, es wäre vorbei. Danke noch mal dafür!“
„Hey, du bist mein Bruder.“
„Und er mein Vater! Übrigens, ich hab sie noch.“
„Was hast du noch?“
„Deine alte Mauser! Du wolltest sie damals nicht wirklich, obwohl sie dir gefallen hat.“
„Ich wollte kein Geschenk von ihm. Aber die Mauser war schon schick. Hast du auch die Bergmann noch?“
Er griff in eine Schublade und holte die alte Pistole hervor. Die Bergmann 1897 war in einem hervorragenden Zustand. Wie bei der Mauser C96 lag das Magazin nicht im Griff, sondern vor dem Abzugsbügel. Sie sah wie eine kleine Maschinenpistole aus. Der Lauf war feststehend. Sie war damals kein großer Erfolg gewesen, im Gegensatz zur Mauser C96. Doch im Grunde sahen beide Pistolen wie Geschwister aus. Vielleicht war das der Grund, warum unser Vater uns je eine schenkte.
„Seit man hier auf mich schießt, ist sie immer dabei. Gestern auch. Aber ich musste sie nicht einsetzen. Die Glock von Boris und die zwei P99 hatten auch keine große Chance gegen Handgranaten. Also, willst du deine Mauser haben?“
„Wenn du mich so fragst, dann ja.“
Und schon lag die Pistole vor mir. Das Modell wurde in einem Holster aus Holz geliefert, das zusätzlich als Anschlagschaft fungierte. Mein Modell war eine Weiterentwicklung der C96 aus den 20er-Jahren. Sie wurde nicht über einen Ladestreifen geladen, sondern besaß Magazine. Zudem war sie auf Vollautomatik umgebaut. In Deutschland total illegal. Aber was soll’s, dachte ich mir. Angesichts der Kugeln, die um mich flogen, und der Leichen, die meinen Weg pflasterten, war das mein kleinstes Problem.
„Kannst du dich noch erinnern, wo unser Vater die Waffen damals gekauft hatte?“
„Nein. Aber hier sind sicherlich noch irgendwo die Unterlagen.“
Wir fanden nichts, und so fuhr ich zurück zur Burg. Fox war weiterhin unauffindbar, also machte ich mich daran, das geheime Arbeitszimmer zu untersuchen – oder zumindest das, was davon übrig war. Einige Bücher hatten den Schusswechsel und die Explosionen überlebt. Ich brachte sie in die Bibliothek.
Als Junge hatte ich hier gern Zeit verbracht. Die Bücher, vollgepackt mit Wissen, hatten mich fasziniert. Vieles war historisch und politisch, aber es gab auch eine kleine Auswahl an Abenteuerliteratur und Gothic-Novels, die ich verschlungen hatte: Dumas, Verne, Stoker, Wilde, Shelley.
Ich nahm mir einen Block und Stifte. Ich schrieb alles auf, was ich wusste, auch wenn es nicht viel war. Die Worte Kapelle und Bunker ließen in meinem Kopf etwas klingeln. Ich konnte es nicht fassen, aber ich unterstrich beide Begriffe.
Plötzlich schreckte ich hoch. Marlies stand neben mir.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, Mike.“
„Marlies, wie geht es dir?“
„Es geht.“
„Du solltest nicht hier sein. Ruh dich aus.“
„Nein, dann denke ich immer an Bertold und Kathrin. Das macht mich wahnsinnig.“
„Was willst du dann tun?“
„Ich habe die Korrespondenzen von Bertold und dem Bund geführt. Gerade die Aussöhnung mit den Hexenzirkeln war meine Aufgabe. Ich brauche mein MacBook. Ich werde ihnen schreiben und nach unseren Gegnern fragen. Kannst du mir die Namen kurz aufschreiben? Dann leite ich das weiter.“
„Alles klar!“
Als sie mit meiner Liste und ihrem Mac verschwunden war, tauchte endlich Fox wieder auf.
„Ich habe mit meiner Verwandten in den USA gesprochen. Ich glaube, wir haben es mit einem Skin Walker zu tun.“
„Skin Walker? Was ist das?“
„Bei uns gab es schon immer heilige Männer, die mit Tieren kommunizieren konnten. Und andere, die sich in Tiere verwandeln konnten. Die ersten waren Beast Master, die zweiten Skin Walker.“
„Das hört sich nach Werwolf an.“
„Ja, da gibt es eine große Schnittmenge.“
„Nur, dass das gestern Nacht kein Tier war.“
„Genau. Es gab entartete Skin Walker, die sich mit dem Bösen verbündeten. Sie wurden zu unheimlichen und gefährlichen Kreaturen.“
„Ein normaler Werwolf ist auch unheimlich und gefährlich.“
„Sicher. Aber das hier ist eine ganz andere Kategorie. Wenn sich das Mädchen wirklich mit einem Dämon verbunden hat und dessen Gestalt annehmen kann, reden wir von wirklich starker, dunkler Magie. Da ist sehr viel Böses im Spiel.“
Fortsetzung folgt
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