Der Tag danach

Dies ist der letzte Teil der Geschichte „Der Ruf des Bussards“. Wenn Du jetzt gerade erst einsteigst, geh doch mal zum Anfang.

Über mir zog ein Bussard seine Kreise, sein vertrauter Ruf schnitt durch die eisige Luft. Moon wirbelte durch den tiefen Schnee, während ich regungslos an dem Ort stand, an dem ich in der Nacht zuvor den Jungen gefunden hatte. Ein eisiger Griff der Erinnerung packte mich.

Als ich meine Taschenlampe einschaltet hatte, verschwamm alles zu einem unwirklichen Traum. Daniel, dessen Fuß verstaucht war, wurde schnell geborgen und ins Krankenhaus gebracht. Dann war da Alex. Seine Fragen bohrten sich in mich, und meine Antworten waren ein klägliches Gestammel. Die brennende Gestalt, Kathrins Stimme – sie blieben unausgesprochen. Alex sah mir an, dass ich etwas verbarg. Er schluckte es, vorerst. Doch ich wusste, es würde nicht dabei bleiben.

Ich muss ausgesehen haben wie der Tod – blass, mitgenommen. Alex schickte auch mich ins Krankenhaus. Aber ich entkam der sterilen Umgebung schnell. Mein UTV stand bereit, und ich flüchtete zurück zur Burg. Dort stürzte ich ins Bett, nur um am nächsten Morgen wie magisch wieder hierher gezogen zu werden.

Nun stand ich am Ort der Konfrontation. Nichts Spektakuläres, nur verschneite Natur. Trotzdem durchsuchte ich jeden Winkel. Und da war er: mein verlorener Pfeil, neben dem provisorischen Unterstand. Daniels Meisterwerk. Unglaublich, was der Junge in meinem Survival-Kurs gelernt hatte! Solche Übungen musste ich öfter mit den Kindern machen, gerade hier, wo die Wildnis so nah war. Es könnte Leben retten.

Und ich? Ich musste dringend mein Bogenschießen verbessern. Diese Nacht war ein Debakel gewesen.

Ich setzte mich in Bewegung, meinem Instinkt folgend, in die Richtung, in die die brennende Gestalt geflüchtet war. Keine Spuren im Schnee, doch meine innere Navigation war scharf. Nach kaum fünfzig Metern stockte ich. Mein Blick fiel auf etwas im Schnee.

Dort lag der Kopf meines Tomahawks. Der Holzstiel war verschwunden, verbrannt, oder einfach nicht mehr da. Wenigstens das Metallstück war geblieben. Der Hersteller lieferte ihn mit einem dicken, schwarzen Korrosionsschutz, doch der war mir immer zuwider gewesen. In stundenlanger Arbeit hatte ich ihn abgeschliffen, ihm ein grobporiges, rustikales Finish verliehen. Die Nacht im Schnee hatte ihm zugesetzt, Rost nagte an der Oberfläche. Ich würde ihn wieder aufbereiten müssen. Aber als blutiges Souvenir dieses Kampfes? Er hatte seinen Wert. Ich steckte ihn ein.

Moon riss mich aus meinen Gedanken. Sie stand oben auf dem Grat, neben dem Baum, den ich mit meinem Pfeil getroffen hatte. Vorsichtig begann ich den Aufstieg. Als ich oben ankam, sah ich es: ein kleiner Lederbeutel im Schnee, direkt neben Moon. Hatte die Gestalt ihn verloren?

Mit zittrigen Fingern öffnete ich ihn und schüttelte den Inhalt in meine Hand. Eine silberne Kette mit einem Herzanhänger.

Verdammt!

Diese Kette hatte ich Kathrin geschenkt, kurz bevor ich nach Afghanistan aufbrach. War sie wirklich hier gewesen? War sie die Gestalt? Was zur Hölle geschah hier? Ich packte die Kette ein und machte mich mit Moon auf den Weg zum Opferstein.

Er lag da, auf seiner Lichtung, unberührt, als wäre nichts geschehen. Ich aktivierte meinen Weitwinkelblick. Nichts! Keine Spuren, keine Zeichen der letzten Nacht. Nur ein alter Stein im Schnee.

Ich konzentrierte mich. Drei Atemzüge. Und dann stand ich auf der anderen Seite. Die Frau Moon wartete bereits.

„Du hast viele Fragen“, ihre Stimme war ruhig, doch drängend. „Dein Geist ist sehr verwirrt. Eins nach dem anderen!“

„Hast du, hat der Wolf Schmerz gefühlt im Kampf?“ presste ich hervor.

„Hast du Schmerz gefühlt?“ fragte sie zurück.

„Irgendwie schon, ja.“

„Moon und ich sind in dir. Wir sind ein Teil von dir. Wir sind irgendwie auch du, wenn wir mit der realen und der Geisterwelt agieren. Werden wir getroffen oder verletzt, so wirst du verletzt und nimmst Schaden.“

„Warum haben meine Pfeile nichts ausrichten können, aber mein Tomahawk schon?“

„Wie sehr hast du dich mit dem Tomahawk beschäftigt?“

„Ich habe ihn seit Jahren. Er war auf jeder Tour dabei, und ich habe viel an ihm und mit ihm gearbeitet.“

„Wieviel hast du dich mit den Pfeilen beschäftigt?“

„Puh. Recht wenig. Die Schäfte habe ich komplett gekauft und die Jagdspitzen auch. Die habe ich eigentlich nur für die Rettungsaktion auf die Schäfte geschraubt.“

„Eigentlich hast du dir deine Antwort schon selbst gegeben. Wir laden unsere Dinge, die wir oft gebrauchen, mit unserer Energie auf. Wenn wir viel mit ihnen arbeiten, vor allem positiv, laden sich die Dinge positiv auf. Und in solch einem Kampf macht das einen Unterschied.“

„Also, wenn ich die Schäfte selbst zusammengebaut hätte, wäre mehr Energie darin gewesen und sie hätten eine Wirkung gezeigt?“

„Im Grunde genommen, ja. Aber je mehr du dich mit ihnen beschäftigst, desto mehr werden sie dir helfen. Es gibt aber auch Zeremonien, die deine Waffen gegen böse Geister wirksamer machen. Und ich glaube, das werde ich dir bald beibringen müssen, da wir etwas Böses aufgescheucht haben.“

Diese Worte trafen mich wie ein Schlag, rissen mich ins Hier und Jetzt zurück. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Bernds Schwester… ich bekam sie nicht mehr aus dem Kopf. Der Graf hatte angedeutet, dass sie sich verändert hatte. Oder war das gestern nur ein Trugbild gewesen? Ich wusste es nicht!

Ich drehte mich um und stapfte mit Moon durch den Schnee zurück zum UTV. Über uns rief wieder der Bussard, und ich sah ihm nach, wie er seine Kreise in den Lüften zog. Eine dunkle Ahnung legte sich über mich. Was war das nur für eine Welt, in die ich da hineingeraten war?

Die Moon-Chroniken gehen weiter. In Kürze startet DER FLUCH DES HEXENJÄGERS
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