Dies ist der nächste Teil der Geschichte „Der Ruf des Bussards“. Wenn Du jetzt gerade erst einsteigst, geh doch mal zum Anfang.
Der Schneefall wurde zu einem dichten, undurchdringlichen Vorhang, als ich mein UTV zum Stehen brachte. Genau hier, wo ich vor Wochen mit Boris nach der Wölfin gesucht hatte, verstummte der Motor. Ein letztes Geräusch in der unheimlichen Stille der Wildnis. Ich griff nach meiner Ausrüstung. Die Zeit drängte.
Auf dem Weg hierher war ich noch kurz bei der Burg vorbeigefahren und hatte das Nötigste zusammengepackt. Mein 25 Liter Savotta-Militärrucksack war prall gefüllt, dazu mein Chest-Pack und natürlich – mein Bogen mit Köcher. Das Chest-Pack, ein treuer Begleiter auf jeder Fährtensuche, wurde als Erstes angelegt. Es schmiegt sich an meine Brust und barg alles, was schnell zur Hand sein musste: Überlebensutensilien, Kompass, eine detaillierte Karte der Umgebung und mein Smartphone. Mit seinem eingebauten GPS-Chip war es mein digitales Auge in dieser Schneehölle. Unten am Pack, mit Gummischnur befestigt, mein Mora Garberg Carbon – ein Bushcraft-Messer, das mein altes Bundeswehr-Kampfmesser längst abgelöst hatte. Ein verlässlicher Freund.
Der Savotta-Rucksack hingegen trug die schweren Lasten meiner Mission: Erste-Hilfe-Ausrüstung, Wasser in einem isolierten Trinksystem, ein Klappspaten und eine Säge. Und außen, festgeschnallt unter dem Rucksack, ein 20 Meter Kletterseil.
Nachdem ich beide Packs sicher am Körper verstaut hatte, nahm ich den Bogen zur Hand. Mit geübten Griffen spannte ich die Sehne, zog sie probeweise bis zum Anschlag durch und prüfte ihre Spannung. Drei Carbonpfeile steckten in meinem selbstgebauten Kydex-Köcher am Gürtel, ihre scharfen, schweren Jagdspitzen fest aufgeschraubt. Das war zwar keine Jagd auf Wild sondern eine Rettungsaktion. Doch die Gefahr, dass irgendjemand dem Jungen eine Falle gestellt hatte, ließ mich vorsichtig werden. Zuletzt schob ich mein Cold Steel Trail Hawk, einen weiteren alten Freund, in den Gürtel. Ich war bereit. Mehr als bereit.
Missionsmodus!
Eine Mischung aus Adrenalin und fieberhafter Erregung durchströmte mich. Ein letzter prüfender Blick auf meine Ausrüstung, dann stieß ich mich vom UTV ab und tauchte ein in die schneeweiße Dunkelheit. Eine Taschenlampe wäre nutzlos gewesen. Die dicken Flocken reflektierten jedes Licht sofort, blendeten mehr, als sie halfen. Ich wartete. Minutenlang. Ließ meine Augen sich an die pechschwarze Nacht gewöhnen, durchbrochen nur vom fahlen Scheinen des Schnees.
Ein Schrei. Ein Bussard in der Ferne. Wieder. Moon war da. Ihr unruhiger Geist spiegelte meine eigene Anspannung wider. Ehe ich mich rühren konnte, schoss sie wie ein grauer Schatten in die Dunkelheit. Ich folgte ihr.
Trotz des frischen Schnees fand ich schnell eine Spur. Fußspuren, die aus der Richtung kamen, aus der Daniel laut meinen Berechnungen hätte kommen können. Sie waren kleiner als die eines Erwachsenen. Ein schwacher Hoffnungsschimmer in dieser eisigen Ödnis. Ich war auf dem richtigen Weg.
Am Eingang des Teufelslochs offenbarte sich ein Chaos. Überall Spuren, kreuz und quer. Daniel musste hier etwas gesucht haben, verzweifelt hin und her gelaufen sein. Ich inspizierte jeden Winkel, jede Vertiefung. In einer Felsenritze, verborgen vor dem Schnee, fand ich einen kleinen Kunststofftubus. Als ich ihn öffnete, fiel ein kleiner Zettel heraus. Koordinaten. Mein Herz pochte. Ich gab sie in meine Karten-App ein. Einen Kilometer nördlich. Ich zoomte hinein. Ich kannte den Ort: eine Lichtung, in deren Mitte ein alter Opferstein thronte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit.
Ich riss mein Funkgerät vom Gürtel und versuchte, Alex zu erreichen. Keine Antwort. Schnell. Ich musste zurück zum UTV. Das war der letzte Ort, den ich Alex mitgeteilt hatte. Hier würde er mich suchen. Hastig kritzelte ich meine Erkenntnisse und die Koordinaten auf einen wasserfesten Zettel, klemmte ihn hinter den Scheibenwischer des UTVs. Ein Knicklicht sollte die Stelle markieren. Das musste er finden. Dann drehte ich mich um und machte mich wieder auf den Weg.
Moon stand etwas abseits, ihr Blick auf mich gerichtet. Sie wollte, dass ich zu ihr kam. Dort, wo sie stand, sah ich eine zweite Spur. Größere Abdrücke. Nicht viel größer, aber eindeutig die eines Erwachsenen. Er hatte hier gestanden. Hatte Daniel beobachtet. Und war ihm dann parallel gefolgt, in etwa 20 Metern Abstand.
Verdammt! Hier war noch jemand.
Ich sank in die Knie. Mit einer fließenden Bewegung nahm ich den Bogen von der Schulter, nockte einen Pfeil ein. Meine Sinne öffneten sich, schärften sich. Keine unmittelbare Gefahr. Ich stand langsam auf, drehte mich einmal um die eigene Achse, taxierte die Umgebung. Mein Blick war in die Ferne gerichtet, doch unfokussiert, ein Weitwinkelblick, der mich alles um mich herum wahrnehmen ließ. Ich sah den Schnee, der immer stärker fiel. Äste, die unter der Last ächzten und abbrachen. Alte Bäume, die dem Druck nicht mehr standhielten. Hier war nicht nur der Fremde eine Gefahr. Die Natur zeigte sich von ihrer unbarmherzigen Seite. Mir lief langsam die Zeit davon.
Alex hatte recht. Das war eine Falle. Eine Falle für den Jungen. Doch der Unbekannte rechnete nicht mit mir. Trotzdem, ein mieses Gefühl nagte an mir. Ich folgte jetzt der Spur des Erwachsenen und näherte mich langsam dem Opferstein.
Kurze Zeit später machte sich Moon wieder bemerkbar. Diesmal bei der Spur des Jungen. Ich ging hinüber. Daniel hatte die Richtung geändert. 90 Grad Abzweigung. Weg von der Spur des Fremden. Hatte er ihn bemerkt?
Ich ging noch einmal zur anderen Spur. Sie führte weiter in Richtung Opferstein. Vielleicht hatte der Fremde nicht bemerkt, dass Daniel abgebogen war. Das wäre ein kleiner Lichtblick in diesem tosenden, weißen Chaos.
Ich folgte dem Jungen. Die Spur führte eine Anhöhe hinauf. Oben ein schmaler Grat, Felsen zu beiden Seiten, steil abfallend. Jeder Schritt hier oben war gefährlich. Ein Junge in Panik, im tiefen Schnee – leicht konnte er ausrutschen.
Wieder dieses miese Bauchgefühl. Und dann sah ich es: Die Spur endete. Der Junge war ausgerutscht und vom Felsen gestürzt. Vorsichtig näherte ich mich der Kante, blickte gut zehn Meter in die Tiefe. Alles war weiß. Nichts zu sehen.
Schnell befestigte ich mein Seil an einem Baum, seilte mich ab. Jeder Handgriff saß. In wenigen Augenblicken war ich unten. Ein tiefes Loch im Schnee. Da war etwas von oben gefallen. Der tiefe Schnee hatte den Fall abgemildert. Ohne ihn wäre der Junge schwer verletzt oder tot.
Ich konnte seiner Spur folgen. Aber sie war ungleichmäßig. Er hatte sich beim Sturz wohl doch verletzt. „Mach hinne!“, sagte ich zu mir selbst. Dann sah ich einen schwachen Lichtschein. Vorsichtig näherte ich mich einem umgestürzten Baum. Den Bogen in der Hand, die Sehne leicht gezogen, umrundete ich den Stamm. Ich zog den Bogen bis zum Ankerpunkt. Bereit.
Fortsetzung folgt...
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